Aufsätze und Materialien zu Medien & Gesellschaft

- zum internen Gebrauch in meinen Lehrveranstaltungen // www.medien-gesellschaft.de

zusammengestellt
von
Klaus Wolschner


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VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die 
menschliche 
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges

ISBN 978-3-7375-8922-2
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2 AS Cover klein

Wie wir wahrnehmen, 
was wir sehen

ISBN 978-3-7418-5475-0
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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft 
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3
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„Schein-Weise, nicht Weise"

In einem Dialog in der Schrift Phaidros findet sich ein gern zitierter Passus über die kritische Bewertung der Schrift - ausdrücklich im Sinne von Technologiefolgen-Abschätzung.
Er soll hier in voller Länge wiedergegeben werden nach der Übersetzung Wolfgang Raible (entnommen aus: Raible, Medien-Kulturgeschichte, S. 89ff)

[274b3] SOKRATES: Wir haben nun genug darüber gesprochen, was Kunst und Kunstlosigkeit in Reden ist.

PHAIDROS: In der Tat.

SOKRATES: Aber über die Frage, ob die Schrift angemessen oder unangemessen ist, inwiefern ihr Gebrauch etwas Positives sein könnte und inwiefern unangemessen, müssen wir noch reden, nicht wahr?

PHAIDROS: Ja.

SOKRATES: Also, weißt du, inwiefern du mit Reden, sei es durch Handlung, sei es mit Worten, einem Gott am meisten gefallen kannst?

PHAIDROS: Nein, du etwa?

SOKRATES: Ich kann dir eine Geschichte erzählen, die ich von den Alten habe; sie kennen ja das Wahre, Wenn uns das alles selbst zufiele, würden wir uns dann wohl noch etwas um das Wissen anderer Menschen (doxasmatha) kümmern?

PHAIDROS: Das fragst du doch nicht im Ernst. Erzähl also die Geschichte, die du gehört hast. [274c5J

SOKRATES: Ich habe gehört, in Naukratis in Ägypten habe es unter den lokalen alten Göttern einen gegeben, dem auch der heilige Vogel gehörte, den sie Ibis nennen; der Gott selbst habe den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnen erfunden, und Geometrie und Astronomie, dazu noch Brettspiel und Würfelspiel, und dann auch noch die Buchstaben (ta grammata). Da nun damals über ganz Ägypten Thamus König war, der in der großen Stadt des oberen Bezirks residierte, den die Griechen das ägyptische Theben nennen, wie sie den dortigen Gott Ammon nennen - zu diesem Thamüs also kam Theuth und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe. Als Theuth dies darauf darlegte, verteilte Thamüs Lob und Tadel, je nach dem, wie ihm etwas gut oder nicht gut erschien.

Es heißt nun, Thamus habe dem Theuth vieles über jede der einzelnen Künste/Techniken in beiderlei Richtung gesagt, was durchzugehen viele Worte erfordern würde. [274e4]

Als er dann zu den Buchstaben kam, sagte Theuth: „Diese Kenntnis, lieber König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen; denn sowohl als ein Hilfsmittel für das Erinnern wie auch für die Weisheit ist sie erfunden worden (mnemes te kai sophias pharmakon).“ 
Der König erwiderte: „Du Super-Erfinder (technikotate) Theuth! Eine Erfindung machen und den Schaden oder Nutzen beurteilen zu können, den sie für die Nachwelt bedeutet, sind zweierlei. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus liebevoller Voreingenommenheit (eunoia) das Gegenteil von dem gesagt, was sie bewirken werden. Im Geist (en psychais) derer, die sie erwerben, wird diese Technik nämlich Vergessenheit herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns (mnemes ametetesia), zumal sie ja nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen (exothen hyp' allotrion typon), nicht von innen her aus sich selbst das Erinnern schöpfen. Du hast also nicht für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis ein Hilfsmittel erfunden (oukoun mnemes alla hypomneseos pharmakon heures). Du verschaffst den Adepten nur den Anschein von Weisheit, nicht die Wahrheit (sophias ... doxan uk aletheian). Denn da sie dir nun ohne (eigentliches) Lernen Vielhörer (polyekooi) geworden sind, werden sie meinen, Vielwisser zu sein, obwohl sie eigentlich nichts wissen, und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, weil sie Schein-Weise (doxosophoi) geworden sind, nicht Weise."

PHAIDROS: Lieber Sokrates, du bist ja ein wahrer Meister im Erfinden von heimischen und fremden Geschichten!

SOKRATES: Es gibt Leute, mein Lieber, die sagen, die ersten Wahrsagungen seien die einer Eiche im Tempel des Zeus in Dodona gewesen. Den damals Lebenden also, die eben keine Weisen waren wie ihr Jüngeren, genügte es, in Einfalt den Baum oder den Fels anzuhören, wenn sie nur Wahres redeten. Offenbar macht es aber für dich einen Unterschied, wer etwas sagt und woher er kommt. Du achtest nämlich nicht allein darauf, ob sich etwas so oder anders verhält - du machst einen 

unsachlichen Einwand.

PHAIDROS: Ich akzeptiere deinen Tadel. Auch ich meine, dass der König aus Theben mit seiner Ansicht über die Buchstaben richtig liegt.

SOKRATES: Wenn also jemand glaubt, er könne sein Wissen in Form eines geschriebenen Texts hinterlassen, und wenn ein anderer meint, aus einem solchen Text könne wieder ein Wissen mit Hand und Fuß entstehen, dann sind beide Opfer beträchtlicher Einfalt und kennen in der Tat die Wahrsage des Ammon nicht, der geschriebene Reden nur als eine Gedächtnishilfe für den ansieht, der schon weiß, worum es in dem geschriebenen Text geht.

PHAIDROS: Genau!

SOKRATES: Dieses Problem, lieber Phaidros, teilt die Schrift doch wohl mit der Malerei. Denn auch das, was die Malerei erzeugt, steht so da, als ob es lebendig wäre; wenn du aber eine Frage an das Bild stellst, schweigt es vornehm. Genauso auch die geschriebenen Texte: Du könntest meinen, sie sprechen, als verstünden sie etwas von dem, suchen was sie sagen: wenn du aber in der Absicht, mehr zu erfahren, nach etwas fragst, so sagen sie immer nur ein und dasselbe. Und wenn er   einmal geschrieben ist, treibt sich jeder geschriebene Text überall herum, ebenso bei den Verständigen wie bei denen, für die er gar nicht passt, und er weiß nicht, zu wem er eigentlich reden soll und zu wem nicht; vernachlässigt aber und zu Unrecht geschmäht, hat der schriftliche Text immer seinen Vater als Helfer nötig; denn er selbst kann sich weder wehren noch helfen.

PHAIDROS: Ganz genau.

SOKRATES: Wie aber? Wollen wir unser Augenmerk nicht auf eine andere Rede lenken, die leibliche Schwester des geschriebenen Texts, und uns fragen, wie sie entsteht und um wie viel besser und wirksamer sie in ihrer Natur ist als die geschriebene?

PHAIDROS: Welche denn, und wie soll sie nach deiner Meinung entstehen?

SOKRATES: Jene, die mit echtem Wissen (episteme) in den Geist des Lernenden geschrieben wird, und die sich nicht nur selbst zu wehren vermag, sondern auch weiß, zu wem sie reden und schweigen soll.

PHAIDROS: Du meinst die lebendige und beseelte Rede des Wissenden (eidotos), von der die geschriebene Rede zu Recht ein Abbild genannt werden kann.

SOKRATES: Allerdings. Sag mir also: Wird ein Bauer, der Verstand hat, den Samen, an den ihm gelegen ist und von dem er gern Frucht bekommen möchte, ernstlich im Sommer im Ziergärtchen anbauen und sich nun freuen, wenn er sieht, dass die Pflanzen innerhalb von acht Tagen schön stehen? Oder wird er dies nicht, wenn überhaupt, nur aus spielerischem oder festlichem Anlass tun? Und wird er nicht den Samen, an dem ihm ernsthaft gelegen ist, nach den Regeln der Kunst des Landbaus dort aussäen, wohin es sich gehört, und sich freuen, wenn das, was er säte, im achten Monat reif wird?

PHAIDROS: Sicher, lieber Sokrates, wird er das Eine in professioneller, das Andere aber, wie du sagst, in ganz anderer Absicht tun.

SOKRATES: Wer aber an der Wissenschaft (pl. epistemas) des Gerechten und des Schönen und des Guten teilhat - wollen wir sagen, dass der, was seinen Samen angeht, weniger Verstand habe als  der Bauer?

PHAIDROS: Nicht doch.

SOKRATES: Er wird sie also nicht ernsthaft ins Wasser schreiben wollen, also mit Tinte durch die Feder in Texten aussäen, die weder dazu in der Lage sind, sich selbst mit Worten zu helfen, noch das Wahre in hinreichender Weise zu vermitteln.

PHAIDROS: Selbstverständlich nicht.

SOKRATES: Nein, sondern die Buchstabengärtchen wird er, wie mir scheint, des Spiels halber besäen und beschreiben, und zwar so, dass er, wenn er schreibt, einen Schatz von Denkwürdigem sammelt sowohl für sich selbst für die Zeit, in der er in das Alter des Vergessens kommt, als auch für jeden, der derselben Spur nachgeht; und wenn er sie in ihrem zarten Wuchs anschaut, wird er seine Freude daran haben. Wenn aber Andere andere Spiele treiben, bei Gastmählern sich labend, oder was sonst damit verwandt ist, wird er stattdessen, wie mir scheint, an dem, wovon ich rede, seinen spielenden Zeitvertreib haben.