Aufsätze und Materialien zu Medien & Gesellschaft

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von
Klaus Wolschner


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Augensinn und Bild-Magie -
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Zusammenfassende Stichworte zur Rollentheorie

2022

Die Soziologie des 20. Jahrhunderts formulierte die klassische „Rollentheorie“, die das Verhalten der Menschen auf der „Bühne der Gesellschaft“ als Rollenspiel beschreibt. Identität gewinnt der Mensch über seine Rolle. Dabei stellt sich die Frage, ob es neben oder zwischen den sozial definierten und institutionalisierten Rollen auch Spielräume der Individualität und der persönlichen Einzigartigkeit gibt.

1. Zur Vorgeschichte der Rollentheorie

Der Gedanke, dass Menschen in ihrem geselligen Leben eine Rolle wie im Theater spielen, ist so alt wie das Theater. Der Humanist Michel de Montaigne hat in seinen „Essais“ (1580) festgestellt: „Die ganze Welt ist unser Spiegel, in dem wir uns betrachten müssen, um den richtigen Blick für die Selbstbeobachtung zu bekommen.“

Diese Erklärung des Handelns hatte der schottische Moralphilosoph John Locke als  „law of opinion or reputation“ (1690) bezeichnet. Locke erklärt in seinem Buch „Some Thoughts Concerning Education“, Kinder sollten lernen, sich selbst als rational und daher frei zu sehen, aber gleichzeitig dem Gesetz der Meinung oder des Rufs zu gehorchen. Das „Gesetz der Reputation“ fordert die notwendige Zurückhaltung, um den Wunsch nach Freiheit auszugleichen. Die Achtung der Rechte anderer ist ein wesentliches Element des Lockeschen Naturrechts.

Von William Shakespeare stammt der Ausspruch, die ganze Welt sei eine Bühne: „All the world’s a stage.“ („Wie es euch gefällt“, 1599)  Shakespeare lässt die Figur des Hamlet angesichts des vorgeführten Tränenausbruchs eines Schauspielers nachdenklich fragen: „Was ist ihm Hekuba, dass er um sie sollt’ weinen?“ Vorbild für solche diese Überlegungen war das inszenierte Rollenspiel des Adels. Dass auch Bauern und Stadtbürger nur Rollen spielen (können), war eine spätere Erkenntnis.

Das Bürgertum hat die Rolle des Adels infrage gestellt und  das adelige Rollenspiel kritisch beschrieben. Jean-Jacques Rousseau etwa hat „seiner“ Emile 1762 ans Herz gelegt: „Der Mann von Welt verbirgt sich ganz hinter seiner Maske. Da er fast niemals zu sich kommt, ist er sich immer fremd, und missmutig, wenn er dazu gezwungen ist. Was er ist, ist nichts; was er scheint, ist ihm alles.“  Die Oper des 19. Jahrhunderts lebt von der Darstellung und Infragestellung des Rollenspiels der Menschen. (Puccini, Barbier von Sevilla)

Friedrich  Nietzsche mahnte 1886, „es gehöre zur feineren Menschlichkeit, Ehrfurcht vor der Maske zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu betreiben“

Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies hat in seiner Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft (1887)   den Menschen als „Person“ und Träger von sozial differenzierten Rollen beschrieben: Menschen halten „den Charakter einer Person wie eine Maske vor ihr Antlitz.“ Um sich einer Gemeinschaft einzuordnen, muss der Mensch eine „kulturellen Rolle“ übernehmen. Der Mensch „selbst“ ordnet sich der Gemeinschaft unter - zum eigenen Nutzen.

Dass es die Medien sind, die zur „Imitation“ anzuregen und die menschlichen Stimmungen synchronisieren, hat  Gabriel Tarde 1890 festgestellt.

Der Soziologe Georg Simmel (1858-1918) hat unterschieden zwischen „organischen Kreisen, in die ein Mensch hineingeboren wird, und rationalen Kreisen, die er selbst wählt, Die Anforderungen der „Kreise“ können in Konkurrenz oder Konflikt zueinander treten und damit einen Spielraum für „Individualität“ öffnen. Wie der Schauspieler müsse dabei jeder Rollenträger den „Eindruck machen, dass er will, was er nach dem Imperativ der Rolle soll.“ Simmel nahm Elemente der späteren Rollensoziologie vorweg, ohne noch den Begriff der „sozialen Rolle“ zu benutzen. 

Zu den Begründern der modernen soziologischen Rollentheorie gehört Robert Ezra Park (1864-1944), der 1926 formulierte: „In einem gewissen Sinne und insoweit diese Maske das Bild darstellt, das wir uns von uns selbst geschaffen haben – die Rolle, die wir zu erfüllen trachten –, ist die Maske unser wahreres Selbst: das Selbst, das wir sein möchten. Schließlich wird die Vorstellung unserer Rolle zu unserer zweiten Natur und zu einem integralen Teil unserer Persönlichkeit. Wir kommen als Individuen zur Welt, bauen einen Charakter auf und werden Personen.“ Park wies auch darauf hin, dass „das Wort Person in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet. Darin liegt eher eine Anerkennung der Tatsache, dass jedermann überall und immer mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielt.“   

Jacob Levy Moreno, ein aus Österreich in die USA emigrierter Arzt, formulierte in seinem Buch „Who shall survive? (1934, dt.: Die Grundlagen der Soziometrie – Wege zur Neuordnung der Gesellschaft, 1953) grundlegende Einsichten der späteren Rollentheorie. Rollenmuster, Normen und

Werte, so Moreno, müssten dem „Spieler bis ins Fleisch dringen“, es liege an dem einzelnen, seine Rolle(n) persönlich auszugestalten: „Denn jedes Individuum drängt danach, weitaus mehr Rollen zu verkörpern, als die, die ihm im Leben gestattet sind zu spielen und sogar in ein und derselben Rolle mehrere Variationen darzustellen.“ 

In der angelsächsischen Soziologie war das Buch von Ralph Linton „The Study of Man” (1936) grundlegend. Talcott Parsons (1902-1979) und Erving Goffman (1922-1982) haben dann die klassische Rollentheorie ausformuliert.

2. Zentrale Gedanken der soziologischen Rollentheorie

Vormoderne Gemeinschaften werden durch tief verankerte kulturelle Verhaltensmuster zusammengehalten. David Riesman hat diese Verhaltenssteuerung „Traditionsleitung“ genannt: „Der traditionsgeleitete Mensch steht der Kultur wie einer einheitlichen Macht gegenüber, auch wenn ihm diese durch jene spezifische kleine Gruppe von Menschen, mit denen er in täglichem Kontakt steht, nahegebracht wird. Diese erwartet von ihm nicht, dass er sich zu einer bestimmten Persönlichkeit entwickelt, sondern lediglich, dass er sich in der allgemein anerkannten Art und Weise verhalte.“ Der Traditionsgeleitete wird von abweichendem Verhalten durch die Furcht vor Schande abgehalten.

Dabei gibt es durchaus biografisch bestimmende Rollen und situative Rolle, ein Beispiel dafür wäre das Rollenspiel des Trauernden: „Da die trauernde Person in der einen Phase anders handelt als in einer anderen (oder dies von ihr erwartet wird), ist es wesentlich, dass Andere wissen, in welcher Phase sie sich befindet, und dass sie den Anderen diese Information gibt. Sie muss sich letztlich für die Anderen identifizieren.“ Dazu dient eine bestimmte Kleidung oder auch ein Minenspiel, der Verzicht auf Fröhlichkeit. Wie sehr diese Rolle inszeniert werden kann, zeigt die Tradition der „Klageweiber“. Nach einer gewissen Phase wird das Weiterspielen der Rolle des Trauernden als unangemessen betrachtet.

In einer differenzierten Stadtgesellschaft gibt nun eine Vielzahl von Rollen. Erwartungen des normalen Verhaltens werden als Rollen bezeichnet. So gibt es in dem dem sozialen System der Kleinfamilie die Rollen des  Vater, der Mutter und des Kindes. In solchen normativen Rollenmustern ist fixiert, welche Formen des Handelns in einer gegebenen Gemeinschaft oder Gesellschaft als angemessen, rechtmäßig oder erwartet betrachtet werden. Die Rollenmuster sind von einem allgemeinen normativen Empfinden getragen und bieten die Chance für eine stabile Orientierung, die als „Identität“  in dem komplexen Rollensystem empfunden wird. Dabei sind es tradierte Muster, von denen wir unser Handeln leiten lassen. Letztlich wollen wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten sollen. Dazu dienen Statussymbole und Kleidung, rollengebunden sind geschlechtsspezifische Inszenierungen oder auch die Art zu sprechen. Als „soziale Fassaden“ werden Erwartungsmuster bezeichnet, die mit einer bestimmten Rolle verbunden sind - wie „man“ sich als Arzt oder als gute Mutter zu verhalten hat.

Das Denken und Handeln der Individuen steht unter dem normativen Druck des kulturellen Systems und ganz konkret unter der Vorgabe spezifischer Rollen in konkreten sozialen Systemen. Soziale Systeme sind Systeme von Erwartungen spezifischen Verhaltens. Jeder Mensch hat grundsätzlich ein Interesse, für sein Rollenspiel Zustimmung zu erfahren und ist daher motiviert, die gesellschaftlichen Werte und Normen zu erfüllen. Identität ist Rollenidentität, wobei jede Person in einer komplexen Gesellschaft eine Vielzahl von Rollen erfüllt. Die Pluralisierung von Rollen führt zu einer Überlappung von Zwängen und gelegentlich auch zu Widersprüchen. Solche Widersprüche und sich überlappende Zwänge können Freiheitsspielräume der Rollen-Interpretation öffnen. Die Komplexität der sozialen Systeme und die Vielfalt in sich geschlossener Gemeinschaften schwächt die Normativität eines übergreifenden kulturellen Konsenses.

Die jeweils individuelle Identität liegt in der Mischung verschiedener Rollen begründet. Hinzu kommen biografische Rollenwechsel. Ein Außenminister, der einmal Taxifahrer war, hat eine besondere Identität, auch wenn er die Rolle Außenminister streng nach dem vorgegebenen Rollenmuster ausfüllt.  Identität ist die jeweils individuelle Variation der Kombination von Rollen. 

Im Jahre 1950 veröffentlichte der Chicagoer Soziologe David Riesman (1909-2002) zusammen mit anderen eine berühmte Studie über den amerikanischen Sozialcharakter, die den bezeichnenden Titel „The lonely crowd“ trug. Darin beschrieb er die modernen Menschen als „außengeleitet“ (‚other-directed‘). Natürlich sind traditionsgeleitete Menschen auch in gewisser Weise außengeleitet, das Neue ist allerdings, dass die moderne Außenleitung nicht über Jahrhunderte tradiert ist, sondern flexibel und variabel. Die Mode ist ein wichtiger Mechanismus der Außenleitung. Außenleitung ist eine unbedachte Anpassung, die Zugehörigkeit sichert, eine Orientierung an den Anderen, eine Nachahmung von Menschen, die anscheinend den Kurs des „richtigen“ Lebens schon gefunden haben. Die Massenmedien informieren den einzelnen Menschen darüber, was normal ist und wie Abweichungen von der Normalität sanktioniert werden. „Der außengeleitete Mensch ist ‚Weltbürger‘“, er ist „in gewissem Sinne überall und nirgends zu Hause; schnell verschafft er sich vertraulichen, wenn auch oft nur oberflächlichen Umgang und kann mit jedermann leicht verkehren.“ (Riesman 1950)

Den Begriff der Außenleitung stellt Riesman auch dem der „Innenleitung“ entgegen, damit ist das normative Modell eines Menschen gemeint, der ohne strenge und selbstverständliche Traditions-Lenkung und ohne Orientierung an der Wertschätzung anderer sein Leben zu gestalten vermag. Die romantische Fiktion der Innenleitung liegt auch dem steigenden Bedürfnis nach individueller Identität zugrunde. Die Menschen präsentieren sich als „unverwechselbare“ Persönlichkeit durch kleine Abweichungen („marginal differentiation“), oft auf dem Feld des ästhetischen Freizeit-Konsums. Solche kleinen Besonderheiten helfen dabei, das Gefühl der Außenleitung zu verdrängen.

Der Soziologen Erving Goffman (1922-1982) hat in seinem 1959 erschienenen Buch „The presentation of self in everyday life“ betont, dass die außengeleiteten Menschen den Eindruck, den andere von ihnen haben, kontrollieren wollen. Der deutsche Titel „Wir alle spielen Theater“ (1983) trifft daher Goffmans Intention besser. Der Spieler inszeniert in seiner Maske sein „Selbst“. Die Frage, ob es „wahr“ ist, was den Anderen auf der Bühne des Lebens geboten wird, stellt sich in der Rollentheorie nicht.

Anselm L.  Strauss hat 1959 in seinem Buch „Mirrors and Masks“ (dt. „Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität“, 1968) die persönliche Identität als „Konzept“ bezeichnet. Auf der „Suche nach Identität“ betrachten wir die Anderen, die wie Spiegel das Bild, das wir gerne von uns vermitteln möchten, reflektieren. Am Beispiel der Trauer zeigt sich, wie sehr die Identität selbst bei einem so individuellen und intimen Gefühl in die soziale Rollenerwartungen einer angemessenen Form, Dauer und Bewertung von Trauer eingebunden ist.

Eine romantische Überhöhung dieses Bedürfnisses hat in der antiautoritären Kultur-Revolte der 1960er gegeben. Mit Herbert Marcuse feierten viele die Selbstentfaltung des narzisstischen Individuums als Befreiung.

 

    Siehe auch: Das moderne Ich ohne traditionelles Wir
    Der kapitalistische Sozialcharakter - Das moderne „Ich“ ohne traditionelles „Wir“: Es sind vorkapitalistische Gemeinschafts- Bindungen, die in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts verloren gehen und den Menschen als flexible Arbeitskraft zurücklassen
     
    http://www.medien-gesellschaft.de/html/das_moderne_ich_ohne_wir.html